17. Kapitel
Also, Adam hat einen besseren Geschmack.«
Lea versuchte, Liams abfällige Bemerkungen über ihre Kleidung zu ignorieren und sich stattdessen auf das Telefongespräch zu konzentrieren, das Adam soeben auf seinem Handy führte.
»Hat er wirklich. Diese Farbe steht dir gar nicht.«
»Himmel noch mal, Liam, halt endlich die Klappe!«
Trotzdem konnte Lea nicht anders, als an sich herabzusehen. Er hatte recht: Der graue Mantel, das limonengrüne Sweatshirt und die viel zu weite Jeans, die Agent McLeod ihr heute früh vorbeigebracht hatte, waren einfach scheußlich. Sie wusste nicht, wo er die Sachen herhatte, aber dennoch: Der Mantel war warm, die eingelatschten Sneaker bequem, und scheußlich oder nicht, der Pulli und die Jeans waren weit praktischer als das rote Kaschmirkleid von gestern, das leider blutverschmiert und nicht mehr zu gebrauchen gewesen war.
Apropos Blut. Lea gab die Inspektion ihrer Second-Hand-Klamotten auf und schaute zu Adam hinüber, der ihr gegenüber in dem geräumigen alten Taxi saß und konzentriert telefonierte. Er war gestern bald nach der unerwarteten Umarmung verschwunden und erst heute früh wieder aufgetaucht, als er um fünf nach acht an ihre Schlafzimmertüre klopfte und sie bat, rasch aufzustehen.
Sie hatte sich nur kurz das Gesicht waschen können, als McLeod sie auch schon aus der Suite gezerrt hatte. Und da saßen sie nun alle drei in diesem Taxi und waren wer weiß wohin unterwegs.
Ihr erzählte ja keiner was.
Da Adam beschäftigt war, versuchte Lea bei McLeod ihr Glück. Sie räusperte sich und fragte leise: »Wissen Sie, wo's hingeht?«
McLeod machte eine zerknirschte Miene.
»Agent Murray wir Ihnen alles erzählen, was Sie wissen müssen.«
»Mit anderen Worten«, fuhr Liam dazwischen, »ohne Erlaubnis vom Boss darf er nichts sagen. Apropos Boss - weiß er schon, dass du die Kugel, die du aus seiner Schulter gepult hast, wieder aus dem Mülleimer geholt hast?«
Lea warf einen bösen Blick auf den leeren Platz neben ihr. Sie hatte gestern Abend tatsächlich noch eine lange, ausgiebige heiße Dusche genommen, und danach - sie wusste selbst nicht, was sie geritten hatte - hatte sie die Kugel wieder aus dem Abfalleimer rausgeholt. Sie wollte sie behalten. Als Andenken. An was eigentlich? Nicht unbedingt an die schrecklichen Minuten in diesem Haus, ihre halsbrecherische Flucht und dass er die Kugel ... Nun, jedenfalls steckte sie jetzt blitzblank gewienert in der Gesäßtasche ihrer Jeans.
»Du hast heute Morgen Oberwasser, was? Mach dich lieber mal nützlich, und versuch rauszukriegen, wo Mary steckt.«
»Komm schon, Lea, woher soll ich das wissen? Außerdem, so schlimm war das alles doch gar nicht. Stimmt, man hat auf dich geschossen - aber nicht getroffen! Und jetzt hast du zwei Vampire als Bodyguards. Manche Mädels würden sich glücklich schätzen.«
Glücklich? Lea schnaubte, während sie versuchte, sich zu beherrschen. Glücklicherweise stoppte das Taxi in diesem Moment; sie waren angekommen.
Wo auch immer.
Lea schaute sich um. Die Gegend kannte sie, hier war sie schon ein paar Mal zum Fotografieren gewesen. Während McLeod bezahlte, Adam sein Telefonat beendete und die Tür öffnete, kletterte Lea in den Sonnenschein hinaus.
Kleine Cafes, Feinkostläden und exotische Restaurants säumten die hübsche Straße. Bruntsfield war eine eher schicke Gegend von Edinburgh, wo die In-People in modisch schlichten Tavernen aus langstieligen Gläsern Wein schlürften. Aber ihre Fotos verrieten nicht, wo sie gemacht worden waren. Lea vermied es geflissentlich, Landmarken oder Wahrzeichen abzulichten - oder auch nur Straßenschilder -, sie bevorzugte ortsungebundene Aufnahmen.
Eine ganz gewöhnliche Parkbank, wie man sie überall auf der Welt findet. Ein Luftballon in einer Baumkrone.
Eine vergessene Angelrute am Flussufer. Eine Weitwinkelaufnahme von einer kopfsteingepflasterten Straße mit Restaurants, vor denen Tische und Stühle stehen. Sie hatte sich bei dieser Komposition an van Goghs berühmtem Bild Cafeterrasse auf der Place du Forum in Arles bei Nacht orientiert, nur dass ihre Stühle nicht wirklich leer gewesen waren und ihr Titel Ghost Al-fresco lautete.
Aber was hatten sie in Bruntsfield zu suchen? Das wollte Lea gerade fragen, doch Adam bedeutete ihnen mit einer gebieterischen Handbewegung zu bleiben, wo sie waren, und verschwand um eine Ecke.
»Er ist immer so redselig«, bemerkte Lea. »Liam, geh doch und schau, was er ... he, Liam?« Aber ihr Gespenst antwortete nicht. Offenbar war es auf denselben Gedanken gekommen wie Lea und Adam gefolgt.
»Reden Sie gerade wieder mit Ihren Geisterfreunden?«, fragte McLeod ein wenig unsicher. Er schien sie nicht zu verspotten, aber er glaubte ihr natürlich auch nicht.
Lea zuckte die Achseln. »Das wollte ich, aber er ist grade weg.«
McLeod trat einen Schritt näher und musterte sie, als wollte er in ihrer Miene lesen.
»Sie glauben tatsächlich, dass Sie mit Geistern reden können?«
Lea seufzte. »Das stimmt so nicht. Ich spreche mit Geistern, und das hat wenig damit zu tun, ob ich daran glaube oder nicht.«
Genau in diesem Augenblick kam Liam zurückgeschwebt, wie Lea an seiner näherkommenden, aufgeregten Stimme hören konnte.
»Lea, Mann, es ist was los!«, rief er erregt.
»So wie jetzt«, sprach Lea, an McLeod gewandt, lächelnd weiter. »Da kommt er gerade, mein pathetischer irischer Geisterfreund, um mir weitere Neuigkeiten ins Ohr zu flüstern. Wahrscheinlich geht es wieder um meine Aufmachung, oder ...«
»Lea!«, brüllte Liam, »es ist ernst!«
Lea erschrak. »Was ist? Ist Adam was passiert?«
»Nein, es ist Mary. Adam ist in ihrer Wohnung im ersten Stock, in dem Gebäude da drüben, und er ist stinkwütend.
Die Wohnung ist leergeräumt, alles, bis auf die Möbel, ist weg. In der Diele steht ein gepackter Koffer, und auf ihrem Computer hat er einen Online-Boarding-Pass für einen Flug nach Buenos Aires gefunden! Sieht ganz danach aus, als ob sie die Fliege machen wollte.«
Warum hätte Mary so plötzlich abreisen sollen? Konnte sie gewusst haben, dass man ihr nach dem Leben trachtete? Aber warum hatte sie dann nicht schon früher um Hilfe gebeten? Und warum hatte sie ihr, Lea, nichts davon erzählt?
Aber bevor Lea Liam weitere Fragen stellen konnte, tauchte Adam wieder auf, mit einer Miene wie ein dräuendes Gewitter.
»William hat angerufen«, sagte er ohne Umschweife zu McLeod, »er möchte, dass du die Bewachung von Cem Bilens Labor übernimmst. Es gilt jetzt Alarmstufe Eins, McLeod.«
»Verstanden!«, antwortete McLeod, wandte sich ab und trabte zum nächsten Taxistand.
»Und was dich betrifft«, sagte Adam, als würde er ihre Gegenwart erst jetzt bemerken; Lea wünschte sich beinahe, er hätte es nicht getan. Da war nichts mehr zu sehen von dem sensiblen, freundlichen Mann, der gestern Abend in dem Badezimmer zum Vorschein gekommen war. Dieser Adam hier sah sehr, sehr wütend aus. »Ich weiß nicht, was für ein Spiel du hier treibst, aber jetzt ist Schluss mit den Lügen! Du wirst mir helfen, Mary zu finden.«
»Aber das wollte ich doch von Anfang an!«
In Adams Unterkiefer zuckte ein Muskel.
»Du hast behauptet, dass Mary tot ist, und jetzt scheint es, als ob sie ihre Sachen gepackt hat und mit der Lösung abgehauen ist. Und ich will jetzt sofort wissen, was du mit der ganzen Sache zu tun hast!« Er hob die Hand, um ihre Proteste abzuschneiden. »Keine Lügen mehr. Ich will dich nicht vor einen Interrogator schleppen müssen, das würde sehr unangenehm für dich werden!«
»Ein Interrogator?«
»Ein Verhörspezialist.«
Sie war tief verletzt, wie er an ihrem Gesichtsausdruck erkannte. Sie hätte Angst haben sollen! Nie reagierte sie so, wie sie sollte. Sie musste doch wissen, dass der Clan an erster Stelle stand. Er hatte versprochen, sie zu beschützen, und das würde er auch tun. Sobald sie die Wahrheit gesagt hatte, würde er sich für sie einsetzen, würde versuchen, eine so milde Strafe wie möglich für sie zu erwirken. Aber zunächst musste er die gestohlenen Lösungen wiederfinden.
Lea neigte ihren Kopf zur Seite, wie sie es immer tat, wenn sie behauptete, mit ihren Geistern zu reden. Vielleicht konnte er ja einen Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit erwirken ...
»Was muss ich tun, damit du mir glaubst?«, fragte sie endlich.
Adam seufzte. Aber diesmal hob sie die Hand, damit er schwieg.
»Soll ich dir erzählen, was du in Marys Apartment gemacht hast? Wie es aussieht? Die Möbel? Oder die Nummer auf der Boardingkarte? Aber du würdest dann wahrscheinlich nur denken, dass ich schon mal dort gewesen bin.«
Ja, genau das würde er.
»Oder ich könnte dich bitten, hinter dem Rücken ein paar Finger hochzuhalten - aber nein, das wäre wohl zu einfach. Moment, Liam hat eine Idee ...«
»Lea, jetzt hör sofort auf damit!« Adam trat einen Schritt auf sie zu, wollte sie packen und schütteln, damit sie endlich mit dem Unsinn aufhörte.
Lea wich zurück. »Oh nein, das lässt du schön bleiben!
Dass du mich irgendeinem Inquisitionsgericht vorwerfen willst, wo man in meinem Hirn rumwühlt, kann ich dir nur verzeihen, weil du mir das Leben gerettet hast. Aber ich hab's satt, von dir andauernd als Lügnerin beschimpft zu werden!«
Wieso regte sie sich jetzt auf einmal so auf? Adam wusste selbst nicht, warum er sich das Ganze überhaupt noch anhörte.
»Wir haben keine Zeit für diesen Quatsch!«
»Dann hör auf, an mir zu zweifeln, und wir machen uns auf die Suche nach Marys Leiche.«
»Frau, wie soll ich dir denn glauben? Du behauptest, mit Geistern reden zu können!«
»Verfluchter Dickschädel«, murmelte Lea. Dann holte sie tief Luft.
»Also! Da drüben ist ein nettes kleines Fischrestaurant.
Ich kenne es, das Halibut and Herring. Liam sagt, er kann dort hingehen und schauen, wie viele Leute gerade drin sind. Ich beschreibe sie dir, und dann kannst du selbst reingehen und nachschauen, ob ich recht habe. Würde dich das überzeugen?«
Er wollte nichts mit irgendwelchen blöden Experimenten zu tun haben. Aber wenn dieses Geistergerede dadurch ein Ende hätte, war es den Versuch wert.
»Also gut. Aber wenn's nicht stimmt, hörst du auf mit dem Theater, ja?«
»Es wird stimmen, aber okay, wenn nicht, höre ich auf mit dem Theater«, sagte sie grimmig.
»Okay, dann los«, antwortete er ebenso grimmig.
Lea nickte, dann schaute sie nach links. »Bitte beschreibe mir die Leute möglichst detailliert, Liam. Wir wollen unserem Vampir hier schließlich klarmachen, dass es so etwas wie übersinnliche Wesen auf dieser Welt gibt.«
Adam widerstand der Versuchung die Augen zu verdrehen. Leas Sarkasmus wurde ihm allmählich vertraut. Er schaute sich kurz um, um sicherzugehen, dass sie ungestört waren, dann schob er die linke Hand in die Jackentasche und nahm die Knete, die er dort aufbewahrte, in die Faust.
Lea nickte der Straßenlaterne zu. »Okay. Liam ist jetzt losgezogen. Er sagt, ich soll dich daran erinnern, dass du einer Helena versprochen hast, wieder anzurufen.«
Adams Finger, die die Knete umschlossen, zuckten.
»Woher weißt du das?«
Lea zuckte die Achseln. »Liam hat mir erzählt, dass du in Marys Wohnung mit einer Helena telefoniert hast. Wer ist Helena?«
Adam atmete langsam aus, den Blick unverwandt auf Leas Gesicht geheftet. Es konnte nicht sein. Unmöglich.
Und wenn sie doch die Wahrheit sagte? Wie sonst hätte sie von diesem Telefonat wissen können? Und dann diese Profikiller ... Woher hatte sie gewusst, dass sie kamen? Und dass sie zu viert waren?
Adam fluchte leise.
»Wie erklärt Marys Geist das mit dem Flugticket? Und dass all ihre Sachen verschwunden sind?«
Lea versuchte, nicht allzu verblüfft dreinzusehen.
»Du glaubst mir doch nicht etwa?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete er ehrlich. »Aber ich will dir fürs Erste vertrauen. Also, was sagt Mary?«
Lea biss sich auf die Lippe und zupfte verlegen an ihrem scheußlichen Mantel herum. »Ich weiß es nicht, Adam.
Mary ist seit letzter Nacht verschwunden. Liam glaubt, dass sie vielleicht nach ihrer Leiche sucht, oder nach ihrer Katze.«
»Ihre Katze?«, fragte Adam überrascht. Das war das erste Mal, dass er hörte, dass sie eine Katze besaß.
»Ja, Mary hat einen Kater. Roger heißt er, glaube ich.
Sie hängt sehr an ihm. Das Erste, was sie gestern von mir wollte, war, eine Freundin anzurufen, damit Roger was zu fressen kriegt.«
Adam überlegte. War in der Wohnung eine Katze gewesen? Oder ein Fressnapf? »In der Wohnung war keine Katze. Und auch sonst nichts, wie Fressnapf oder Katzenklo.«
»Dann vielleicht in ihrer Wohnung in Pitlochry? Ich glaube, sie hat dort ebenfalls eine Wohnung, denn die Freundin, die ich anrufen sollte, wohnt auch da.«
Aber selbst wenn, hätte Mary doch vorher dafür gesorgt, dass sich jemand um ihre kostbare Katze kümmerte. Sie hatte doch gewusst, dass sie in Edinburgh würde übernachten müssen. Es dauerte immer eine Weile, bis alle Papiere unterzeichnet und versiegelt worden waren. Hm. Da stimmte was nicht.
Adam holte sein Handy hervor und wählte Helenas Nummer.
»Wie heißt diese Freundin?«, fragte er Lea, während er darauf wartete, dass am anderen Ende jemand ranging.
»Sara, glaube ich. Ihren Nachnamen weiß ich nicht, aber sie arbeitet in der Pitlochry Dental Clinic. Zumindest glaube ich, dass sie so heißt. Aber ich habe nicht mit ihr sprechen können. Die haben gesagt, sie ist nicht da. Mehr weiß ich auch nicht über sie.«
Adam biss die Zähne zusammen. Die zahnärztliche Klinik war ein Deckname für das Department ofFormula Registration. Marys Katzensitterin musste also auch ein Vampir sein.
»Hallo?«, sagte die Stimme seiner Schwester. Sie klang gestresst.
»Helena, wir kommen rauf nach Pitlochry. Ich brauche die Adressen von allen Saras, die im Formel-Registrierungsbüro arbeiten. Könntest du mir die besorgen? Und schick uns bitte einen Wagen, der uns in zwei Stunden vom Bahnhof abholt.«
Helena schien sich alles aufzuschreiben. »Gut. Mit ›wir‹ meinst du wohl diese Menschenfrau, Lea, oder?«
»Ja.«
»Gut, dann werde ich selbst kommen. Ich muss mit ihr über was reden, bevor ihr weiter an diesem Fall arbeitet.«
»Wie du willst«, sagte Adam. »Wir nehmen den Zug um halb. Bis dann.«